Ohnsorg-Theater im Bieberhaus, Hamburg
Bauherr
Alstria Office Reit AG
Architekt
Tragwerksplanung
Wetzel & von Seht, Ingenieurbüro für Bauwesen
Architekturfotografie
Laudatio
Die geistigen und schöpferischen Tätigkeiten des Menschen zeigen sich in der Kultur. Kunst und Wissenschaft zeigen sich im Werden und Sein des zu preisenden Bauwerks im besten Sinne vereint.
Vor 110 Jahren wurde eine niederdeutsche Bühne gegründet, die seit 1936 im eigenen Haus an den Großen Bleichen als Volkstheater bis 2011 weit mehr als 8 Millionen Theaterbesucher erfreute. Nach ihrem Gründer Ohnsorg-Theater genannt erlangte die Bühne mit ihren plattdeutschen Aufführungen im Fernsehen für die ganze Familie seit 1954 über Hamburg hinaus deutschlandweite Berühmtheit.
„Verteufelte Zeiten“ waren die neunziger Jahre, als das Haus von Krisen geschüttelt wurde, bis es ab 1996 mit neuem Intendanten Christian Seeler wieder auf Erfolgskurs gesteuert wurde.
Mit dem Umzug des Ohnsorg-Theaters 2011 in das Bieberhaus wurde die Erwartung verbunden, die Existenz des Volkstheaters über weitere Jahrzehnte zu sichern. Der Charme der alten Wirkungsstätte an den Großen Bleichen sollte mit mehr Komfort, modernster Technik, verbesserter Akustik und mehr Platz an anderer Stelle eine neue Ära begründen. Und das darf vorweggenommen werden: Es ist gelungen!
„Willems Vermächtnis“. Nur einen Katzensprung vom Hauptbahnhof entfernt steht das Bieberhaus, geplant und erbaut von 1908-1910 nach den Plänen der Architekten Johann Gottlieb und Wilhelm Jollasse, benannt nach dem beliebten Dr. Theodor August Bieber, Direktor der Jungenschule von St. Georg, die sich einst auf dem Gelände befand.
„Ein Mann ist kein Mann“ sagten sich die Verantwortlichen der alstria office REIT-AG und beauftragten Dinse Feest Zurl Architekten [also Peter Dinse, Isabell Feest, Johann Zurl und ihr Team], das neue Theaterhaus in das ehrwürdige Kontorgebäude zu implementieren, zusammen mit den Tragwerksplanern des Ingenieurbüros Wetzel & von Seht und den weiteren Fachleuten der gebäudetechnischen Belange.
„Bleibt alles in der Familie“. Das Bieberhaus galt schon früher mit integriertem Café, mit Gaststätte und Kino als Ort des Vergnügens. Dieser Tradition wurde nun gefolgt. In nur 16 Monaten Bauzeit wurden in der östlichen Hälfte des Bieberhauses im Bereich des ehemaligen Kinos über drei Stockwerke hinweg der neue Theatersaal, eine Studiobühne, das großzügige Foyer über zwei Ebenen mit Theatercafé und Bar - die jetzt vom Ohnsorg-Theater selbst betrieben werden - die Theaterverwaltung und die notwendigen Betriebsräume geschaffen. Die äußere Gestalt wurde nicht verändert. Der berühmte Schriftzug , jetzt mit roten Lettern, markiert den Zugang zum Haus im Haus.
„Mit Gefühl und Wellenschlag“ wurde Neues geschaffen und gestaltet. Neu das sind die aufsteigenden Sitzreihen, die mehr Beinfreiheit und gute Sicht garantieren. Neu ist auch der Rang. Neu sind Größe und Höhe des Bühnenraums. Eine enorme Vielfalt der künstlerischen Gestaltung wurde dazu gewonnen. Neu ist die Studiobühne.
In dem denkmalgeschützten Bieberhaus galt es technisch wie funktional kreative Lösungen zu finden, um den Gegebenheiten der alten Bausubstanz und der unmittelbaren Nachbarschaft des Bahngeländes mit seinen Lärm- und Vibrationsbelastungen Rechnung zu tragen.
Als Meisterstück gestaltet sich der eingebaute Theatersaal. Auf Stahlfederkissen gelagert ermöglicht er störungsfreies Spielen. Freie Sicht wurde durch Entfernen bestehender Betonstützen geschaffen. Aufwendige Stahl- und Stahlbetonkonstruktionen oberhalb des ersten Obergeschosses ermöglichten die notwendige Lastumlagerung.
„Tratsch im Treppenhaus“ ist erwünscht. Das große Foyer hat Platz für die Theaterbesucher. Strenge Linearität und geometrische Klarheit der Raumführung sowie die edle Ausstrahlung der dunkelgebeizten Ahornholz-Täfelung verleihen den Räumen eine gediegene hanseatische Schlichtheit. Das Gefühl für das differenziert ausgestaltete Detail kommt zum Ausdruck. Das Moderne verbindet sich mit Gemütlichkeit. Durch den Charakter der Farbgebung und der Möblierung wird an die Tradition der alten Spielstätte angeknüpft.
„Rund um Kaphorn“. Für Kinder und ihre Angehörigen verschafft die Studiobühne beeindruckende Erlebnisse und Einblicke in die Theaterwelt mit einfachen Mitteln.
Das Plattdeutsche galt über viele Jahrzehnte als gute und klare Volkssprache, war jedermann verständlich. Als Teil der norddeutschen Kultur ist die Pflege dieser Sprache identitätsstiftend.
Die neue Studiobühne am Ohnsorg-Theater möchte Kinder und Jugendliche für diese Sprache begeistern. Sie schafft eine enge Verbindung zwischen Publikum und Darstellern, zeigt Lebendigkeit. Die zurückhaltende Architektur verbindet und unterstützt die pädagogischen Ziele von Tradition und Gegenwart.
„Nicht für die Katz“ . Den Architekten Dinse Feest Zurl und den Ingenieuren Wetzel und von Seht ist es gelungen einen Weg in die Zukunft zu öffnen. Das Haus wird begeistert angenommen. Die Besucherzahl ist über alle Erwartungen gestiegen. Das Hamburger Ohnsorg-Theater erreichte in der Spielzeit 2011 / 2012 das beste Ergebnis seines mehr als 100-jährigen Bestehens. Gegenüber dem Vorjahr kam es zum Publikumszuwachs von über 20 000 Zuschauern.
„Der Lorbeerkranz“. Für das gelungen Bauwerk mitten im Herzen von Hamburg erhalten Sie vom Hamburger Architekten- und Ingenieurverein die Auszeichnung Bauwerk des Jahres 2011.
Karl-Heinz Schneider
Hamburg, 12.10.2012