Neubau für Hinz & Kunzt
Bauherr
Mara und Holger Cassens Stiftung, Hamburg
Nutzer
Architekt
Axel Hauschild architecture, Kopenhagen
Tragwerksplanung
Laudatio
Ich beginne mit einem traurigen und erschreckenden Rekord: Fast 19.000 Wohnungslose gibt es in unserer Stadt! Jeder 100. Mensch in Hamburg lebt in einer Unterkunft oder auf der Straße. In keiner anderen deutschen Großstadt ist die Quote laut aktueller Statistik so hoch. Das Ziel der Bundesregierung ist es, Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Doch wie schafft man Orte, an denen Obdachlose bleiben wollen?
Im Hamburger Stiftsviertel in St. Georg, in der Minenstraße 9 in der Nähe des Hauptbahnhofs, ist ein solcher Ort entstanden. Das Haus schafft einen Spagat: Ungewöhnlich und doch ge-wöhnlich, eine Fassade, die den Betrachter mit unerwarteten Formen überrascht und mit erwarteten Formen beruhigt. Auf dem Straßenniveau öffnet sich die in den Obergeschossen strenge Lochfassade plötzlich weich und emotional mit ihren Bögen dem öffentlichen Raum und lädt dazu ein, das Dahinterliegende zu erforschen: Die umgedrehte Normalparabel y=x2 als markanter Eingangsbogen, öffnet die Fassade über zwei Geschosse, gibt Einblicke in das Leben dahinter und macht neugierig. Die Zugänglichkeit, funktional und intuitiv, spielt hier auf dem Niveau des Gehwegs eine wesentliche Rolle. Der Weg hinein ist das Ziel. Die klar strukturierte Lochfassade übernimmt ab der zweiten Etage komplett die Regie und be-lichtet in den oberen Geschossen, die Zimmer mit französischen Balkonen.
Der Neubau für Hinz & Kunzt, dem Hamburger Straßenmagazin, das von Obdachlosen im Stadtraum verkauft wird und diese auch am Verkaufserlös beteiligt, vereint die Geschäftsstelle des Magazins und Wohnraum für ehemals Obdachlose unter einem Dach. Im Rahmen der Neubauten der Amalie-Sieveking Stiftung, die das Grundstück stellte, errichtete die Mara und Holger Cassens Stiftung mit viel Liebe zum handwerklichen und emotionalen Detail dieses Haus für Hinz & Kunzt.
Fünf öffentlich geförderte Wohngemeinschaften für drei bis sechs Bewohner und eine Famili-enwohnung in den Geschossen 2 bis 4, die Geschäftsstelle im EG und 1.OG, Sanitär- und Waschräume im KG stehen für Obdachlose und Bedürftige zur Verfügung. Alle 24 Bewohner haben ein eigenes Zimmer und teilen sich zu zweit ein Bad. Küche und Wohnraum werden ge-meinsam genutzt, fördern den Austausch und das soziale Miteinander und schaffen ein Gefühl des Zusammenhalts.
Städtebaulich vollendet das Gebäude den Blockrand und schließt an zwei Bestandsgebäude und einen Neubau an. Gezielt wurden vom Architektenteam Axel Hauschild Dachformen und Höhen der historischen Amalie-Sieveking-Stiftung aufgenommen, um das Ensemble als Einheit sichtbar zu machen. Was aus unserer Sicht prima gelungen ist.
Auch die Materialität der Fassade folgt dem gleichen Ansatz: Die rot geschlämmten Ziegel ori-entieren sich in Form und Farbe am Bestand, wirken aber durch die homogene Farbe der Stei-ne und Fugen skulptural, modern und ästhetisch sehr reizvoll.
Im September 2021 wurde das Haus zur Freude aller bezogen.
Zur Zeit läuft übrigens eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg mit dem Titel „Who's next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt". Auch das Hinz & Kunzt Haus in der Minenstraße 9 ist Teil dieser Ausstellung, und freut sich über Besucher.
Zum Abschluss noch ein Zitat von Amalie Sieveking: „Liebe muss die Wurzel all unseres Den-kens und Tuns sein." Wie gut, dass diese Frau schon vor 200 Jahren dieses Zitat auch gelebt und tatkräftig umgesetzt hat. Als Mitbegründerin der Diakonie in Deutschland hat sie sich schon damals in Hamburg für die Armen, Kranken und Arbeitslosen stark gemacht, durch Hilfe zur Selbsthilfe, Initiativen für den Bau von Wohnungen und Krankenhäusern, sie soll uns ein Vorbild sein!
Ich bedanke mich stellvertretend für den aiv Hamburg bei allen Baubeteiligten für diese großar-tige Geste und das wundervolle Gebäude, das vielen vormals isolierten Menschen ein Zuhause, eine Anlaufstelle und eine neue Gemeinschaft schenkt, sinnvolle Arbeitsplätze schafft, ihren Lebens- und Arbeitsalltag verschönern wird und uns alle zu neuen Ideen für die Stadtge-meinschaft und das bessere Leben aller anspornt.
Herzlichen Glückwunsch zum Bauwerk des Jahres 2021 an:
Bauherrin: Mara und Holger Cassens Stiftung, Hamburg
Nutzer: Hinz & Kunzt, Hamburg
Architekt: Axel Hauschild architecture Kopenhagen
Tragwerksplaner: gs ingenieure, Bad Oldesloe
Fiona Krauß
im November 2022